«This idea that we all have the same life is false. Race, class, gender come together to shape the life chances of people in very different ways.»

Kimberlé Crenshaw

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen als ich einen Text las, in dem es um sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ging. Ich fragte mich, wieso mir all das, von dem andere Frauen berichten, bisher nur selten und in schwacher Form passiert ist. Ich dachte: Vielleicht hatte ich bisher einfach Glück? Vielleicht bin ich besonders vorsichtig und meide instinktiv Situationen, in denen ich sexuelle Belästigung vermute. Oder aber, ich strahle ein besonderes Selbstbewusstsein aus, das mich schützt. All diese Theorien habe ich mir nicht selbst ausgedacht, sondern haben sich durch wiederholte Äusserungen mit der Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Erst als ich diesen Text las, realisierte ich, dass mich wahrscheinlich vor allem meine Privilegien schützen. Das Privileg weiss zu sein. Das Privileg keinen Job annehmen zu müssen, bei dem ich Angst vor Belästigung habe. Das Privileg sofort künden zu können, falls es doch passiert. Das Privileg meine Rechte zu kennen und über ausreichend Bildung und Geld zu verfügen, um diese durchzusetzen. Das Privileg wegrennen zu können. Das Privileg wie jemand auszusehen, dem geglaubt wird. So gesehen gibt es tatsächlich Frauen*, die eher Opfer werden als andere. Aber nicht aufgrund irgendeines persönlichen Dazutuns, sondern allein durch die Machtverhältnisse, die aufgrund von soziodemografischen Unterschieden zwischen Frauen* zustande kommen. 

Johanna Seeliger